„Das Feuer brachte die Menschen
viel näher zusammen“

ONLINE-INTERVIEW

Polly Wiessner ist Professorin für Anthropologie an der Arizona State University, USA. Mehr als 40 Jahre beschäftigt sie sich mit dem Sozialleben der Buschmänner in der Kalahari-Wüste. Ihre Beobachtungen zur Verlängerung des Tages durch das Feuer wurden vielbeachtet. Wir haben Frau Wiessner interviewt.


Prof. Polly Wiessner
Arizona State University, USA

Frau Wiessner, die Nutzung des Feuers hatte wahrscheinlich mehrere Auswirkungen auf die menschliche Evolution. Welche sind das?

Die Beherrschung des Feuers hatte einen enormen Einfluss auf das Leben unserer Vorfahren. Die Verwendung von Feuer zum Kochen hat die Verdaulichkeit der Nahrung und die effektive Versorgung der Jungen erheblich verbessert und kürzere Geburtsintervalle ermöglicht. Das Feuer veränderte die Anatomie, insbesondere die Gehirngröße und das Darmvolumen, und verkürzte die Kauzeit radikal. Das Feuer schützte die frühen Menschen vor Raubtieren und bot einen neuen Rahmen für soziale Interaktion, da die Nahrung zum Kochen an einen zentralen Ort gebracht wurde. Veränderte Landschaften nach der Verbrennung und höhere Kalorienerträge aus gekochten Lebensmitteln senkten die Kosten für gesammelte Nahrung und damit die Kosten des Teilens. Schließlich veränderte das künstliche Feuerlicht den Biorhythmus und verlängerte den Tag, was mehr Zeit für soziale Interaktion bedeutete.

Sie erwähnen in Ihrem Artikel (Embers of society: Firelight talk among the Ju/’hoansi Bushmen) den sozialen Austausch, der durch die Nutzung des Feuers möglich war. Inwieweit war das Feuer hier entscheidend?

Das Feuer verlängerte den Tag und fügte Stunden sozialer Zeit hinzu, die wegen der umgebenden Dunkelheit nicht für die Produktion genutzt werden konnte. Natürlich gab es auch tagsüber einen regen sozialen Austausch, aber der nächtliche Austausch hat eine ganz andere Qualität: Singen, Tanzen, Heilen und Geschichtenerzählen.

Die frühesten Hinweise auf die Verwendung von Feuer sind äußerst selten. Was lässt sich daraus über die Art und Weise schließen, wie die Menschen zu Beginn das Feuer nutzten?

Es gibt eine umfangreiche Literatur, die sich mit diesem Thema befasst. Meiner Meinung nach stammen die solidesten Beweise für die regelmäßige Nutzung des Feuers aus der Zeit vor etwa 350 000 Jahren, und danach findet man Feuerstellen an archäologischen Stätten. Einige Leute werden argumentieren, dass es 1 Million Jahre zurückgeht und wir einfach keine Beweise finden können, aber im Moment denke ich, dass 350.000 Jahre das vernünftigste Datum ist.

Sie konnten diese These durch Ihre Arbeit mit den Kalahari-Buschleuten untermauern. Was ist aus Ihrer Sicht die interessanteste Erkenntnis aus Ihrer Arbeit?

Die interessantesten Erkenntnisse waren, dass die Gespräche am Tag sehr praktisch waren und dass die Gespräche am Abend einen ganz anderen Charakter hatten und Geschichten enthielten, die die Menschen unterhielten und zusammenbrachten. Ich denke, dass die Hauptrolle von Geschichten vor allem darin besteht, die Perspektive anderer Menschen zu vermitteln, was das Einfühlungsvermögen und das Verständnis erhöht. Ein weiterer wichtiger Aspekt von Geschichten ist, dass es in Jäger- und Sammlergesellschaften viele kulturelle Institutionen gibt, wie z. B. solche, die die Ehe regeln, die aber für Menschen, die in kleinen Gruppen leben, nicht so sichtbar sind; Geschichten vermitteln Informationen über die Normen und Regeln der zugrunde liegenden Institutionen. Die Ju/'hoansi sind auf Netzwerke angewiesen, die ihnen in Zeiten sozialer und ökologischer Not und Misserfolge einen alternativen Aufenthaltsort bieten. Die Geschichten vermitteln den Menschen ein sehr gutes Gefühl für das Ausmaß dieser Netzwerke und der daran beteiligten Personen.

Feuer zieht uns auch heute noch in seinen Bann. Ob es sich um eine Kerze, ein Lagerfeuer oder einen Kamin handelt, wir schauen es gerne an und nutzen das Feuer, um zu kommunizieren oder einfach nur, um uns auszuruhen. Glauben Sie, dass diese Beziehung durch die jahrtausendelange Nutzung des Feuers entstanden ist?

Auch wenn die Geschichten nicht mehr oft im Zusammenhang mit dem Feuer erzählt werden, sind sie uns erhalten geblieben und füllen weiterhin die Abendstunden, sei es in Büchern, auf Tonträgern oder in Filmen. Das Geschichtenerzählen entfaltet sich schon in der frühen Kindheit, wenn 3- bis 4-Jährige beginnen, eigene Geschichten zu erfinden und sich nach Gute-Nacht-Geschichten zu sehnen. Unsere Kultur wir mehr und mehr von künstlichem Licht geprägt. Wir erweitern damit den produktiven Teil des Tages um weitere Stunden. Damit tritt der soziale Teil in den Hintergrund, der uns als Menschen seit Jahrtausenden dabei hilft, Beziehungen zueinander auf und auszubauen. Wir sollten – dem uns innewohnenden Antrieb folgend – den Abend wieder öfter am „Lagerfeuer“ verbringen und die Themen des Tages mit der Glut verblassen lassen.